Als wir am Abend des 28. Februar durch die Straßen Frankfurts gingen, fanden wir uns plötzlich vor einem großen Haus aus den 30er Jahren wieder – irgendwo in einem der alten Stadtteile. Das Zusammenspiel der Dunkelheit der Straße und der hellen Lichter in den hohen Räumen gewährte uns ein kurzen Einblick in das Leben der Bewohner:

Eine Familie mit drei Kindern saß beim Abendessen in der Küche. Der Mann sah ein wenig müde aus und sorgte dafür, daß das kleine blonde Mädchen im Hochstühlchen seinen Joghurt aß anstatt ihn im Gesicht zu verteilen. Die Frau schimpfte mit dem fünfjährigen Sproß, der gerade sein Limonadenglas umgeworfen hatte, und wischte mit einem rot-weiß karierten Geschirrtuch den Tisch ab. Ein etwa achtjähriges dunkelhäutiges Mädchen saß, ruhig und unberührt von der Geschäftigkeit um es herum, vor seinem Teller und stopfte sich sichtlich zufrieden Pommes Frites mit Ketchup in den Mund – eine ganz normale Familie.

Zwei Fenster weiter sahen wir einen älteren Herrn in einem zerschlissenen Cordsessel, offensichtlich vor dem Fernseher sitzend. An der Wand hingen ein paar Kunstdrucke neben einem übervollen Bücherregal. Immer wieder sank sein Kopf auf seine Brust – sehr spannend schien das Fernsehprogramm nicht zu sein.

Noch ein weiteres Fenster gestattete uns einen kurzen Blick in ein fremdes Leben: eine gepflegte alte Dame in einem Wohnzimmer, vollgestopft mit Erinnerungsstücken – im Hintergrund des Raumes ein antikes Buffet, auf dem mindestens zehn gerahmte Photos standen. Sie saß auf einer weinroten Samtcouch und las im Schein einer kleinen Leselampe aus den 20er Jahren. Neben ihr schlief eine schwarz-weiße Katze so friedlich, wie nur Katzen schlafen können – ein Bild der Gelassenheit und der Harmonie.

Unser Blick wanderte die Fassade hinauf, blieb an den anderen beleuchteten Fenstern hängen. Auch dort wohnten Menschen, auch dort fand Leben statt. Wir blickten uns an, fühlten uns plötzlich wie Eindringlinge und gingen schnell weiter, vorbei an mehr Häusern und Fenstern, an Hunderten von Menschen und ihren Geschichten. Für fünf Minuten sprach keiner von uns ein Wort ... dann, wie auf ein geheimes Kommando, begannen wir gleichzeitig zu reden. Wir erzählten uns gegenseitig, was wir durch die hellen Fenster gesehen hatten, malten uns die Lebensgeschichten der Menschen aus, deren heimliche Zeugen wir geworden waren – so viele Leben, so viele Geschichten.

Man müßte sie aufschreiben, all die Erfahrungen, Erlebnisse und Gefühle, die in den Häusern wohnten ...

Ja, so fing es an, und in den kommenden Wochen sprachen wir sehr oft über diesen Abend und über die Idee, die vor dem alten Haus entstanden war. Wir würden Bücher schreiben. Aber wir wollten keine Geschichten erfinden, sondern tatsächlich Erlebtes niederschreiben, denn das wirkliche Leben ist oft sehr viel spannender als jede noch so phantasievoll erfundene Geschichte.